Bd. 37 Nr. 37 (2015): ZdF Nr. 37/2015
Von dem im vergangenen Jahr verstorbenen Schweizer Schriftsteller und Übersetzer Urs Widmer stammt der kluge Hinweis, „das Problem des gelebten Lebens ist ja, dass es so strukturlos ist, und Literatur macht nichts anderes, als das gelebte Leben in Form zu bringen“. Auch Geschichtsschreibung versucht, wenn sie es ernst mit ihrem Gegenstand meint, das gelebte Leben in Form zu bringen, seine historische Umwelt zu beschreiben und das Geschehene und Erlebte in einen möglichst konsistent strukturierten Erklärungskontext zu fügen. Wenn sie es denn ernst mit ihrem Gegenstand meint, vermittelt Geschichtsschreibung den Nachgeborenen, was ihre Vorfahren aus ihrem Leben gemacht haben, warum sie es so und nicht anders gelebt haben und welche Konsequenzen ihr Tun oder Lassen für sie selbst, für das Leben anderer, für die Gesellschaft im Kleinen und im Großen zeitigte. Von alters her gibt es aber auch Geschichtsschreiber, die sich der Vergangenheit bedienen, um die herrschenden Verhältnisse und Zustände zu legitimieren, die das Geschehene mit dem Tunnelblick ihrer Weltanschauungen interpretieren und wenn es sein muss auch so umdeuten, dass es für ihr jeweiliges politisches Anliegen nutzbar wird.