Bd. 20 Nr. 20 (2006): ZdF Nr. 20/2006
Nach und nach dämmert dem öffentlichen Bewusstsein, dass die Betroffenheit über ethnische Säuberungen nicht auf ausländische Angelegenheiten einzugrenzen ist. Auch Millionen Deutsche, unter ihnen weit mehr Kinder und Frauen als kriegsbeteiligte Männer, wurden Opfer von Vertreibung und Vertreibungsverbrechen. Wer freilich wie einige Gutmensch-Historiker an eine „deutsche Täter-Generation“ glaubt, muss das ignorieren. Aus unterschiedlichen Gründen wurde es den Vertriebenen im Osten und zeitweise auch im Westen des geteilten Landes schwer gemacht, über ihre Lebenserfahrungen und Traumata zu sprechen. Im Westen haftete dem Begriff der Heimatvertriebenen seit Ende der sechziger Jahre das Odium der Entspannungsfeindlichkeit an, die SED-Propaganda agitierte schon in den fünfziger Jahren gegen den „Revanchismus der Vertriebenenverbände“. In der DDR sollte der Sozialismus alle Menschen ohne Unterlass in eine „lichte Zukunft“ führen, da störten rückwärtsgewandte Bindungen an eine verlorene Heimat ebenso wie solche an das Christentum oder die gemeinsame Nation. Im Herrschaftsbereich der SED lebten viele Bürger, die in den letzten Kriegswochen aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße geflohen sind oder nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus aus den vormaligen deutschen Ostprovinzen vertrieben wurden. Die ideologische Bearbeitung dieser ohnehin entwurzelten Menschen bot der SED-Propaganda Chancen aber auch Risiken. Chancen, weil man mit den euphemistisch „Neubürger“ oder „Umsiedler“ genannten Flüchtlingen bei der Bodenreform Staat machen konnte und sich neue Loyalitäten erhoffte – Risiken, weil man bei ihnen, nach allem was sie erlebt hatten, kein leichtes Spiel hatte, wenn es etwa um die Vergötterung Stalins oder der Roten Armee ging.